“Frei und aufgehoben im Kreise von gleichgesinnten Frauen”
Umgeben von der Fürsorge und Liebe ihrer Eltern blieb Gertrud Bernhard, 1905 geboren, ein Einzelkind. Ihr Vater stammte aus der Lochmühle Rainbach, bei Neckargemünd, und arbeitete als Lehrer an der Heidelberger Landhausschule. Zudem war er ein bekannter Heimatforscher, nach dem eine Straße bei Neckargemünd benannt wurde. Bevor er 1943 starb, holte er die Gemeindehelferin seines Schwiegersohns Erich Kühn und alle Enkelkinder an sein Sterbebett. Er bat sie um Unterstützung seiner Tochter Gertrud, denn er glaubte nicht, dass ihr Ehemann, Pfarrer Erich Kühn, aus Russland zurückkehren würde.
Für die junge Gertrud wurde alles getan. Sie war ein schönes Mädchen, sportlich und eine begeisterte Schwimmerin im Verein Nika. Sie besuchte das Lyzeum, wechselte nach ihrem Abschluss an das Fröbelseminar in Mannheim und ließ sich zur Fürsorgerin ausbilden. Nach erfolgreichem Examen erhielt sie sofort eine Anstellung beim berühmten Heidelberger Pfarrer Hermann Maas, der sich später im Nationalsozialismus für verfolgte Jüdinnen und Juden einsetzten sollte. In der Heidelberger Altstadt richtete man eine Armenküche ein, deren Leiterin Gertrud wurde.
Mit 18 Jahren lernte Gertrud in Heidelberg den Theologiestudenten Erich Kühn kennen und lieben. Obwohl er schon mit 22 Jahren alle theologischen Examen absolviert hatte, Vikar in Karlsruhe und Mannheim wurde, durfte er laut Kirchenordnung erst mit 28 Jahren heiraten. So wurden ehrgeizige Pläne geschmiedet. Seine zukünftige Ehefrau sollte eine vorbildliche Pfarrfrau werden (das war sie dann auch!) Gertrud strebte eine Ausbildung an der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit bei Alice Salomon an. Da Erich Kühn selbst in Berlin studiert hatte, kannte er Alice Salomon aus Veröffentlichungen und Vorträgen und unterstützte die Pläne seiner Verlobten.
Für meine Mutter war es wohl die glücklichste Zeit, die sie von 1928 bis 1929 erleben durfte. Die Korrespondenz mit Erich erlaubt tiefe Einblicke in ihr Leben in Berlin. Sie fühlte sich frei und aufgehoben im Kreise von gleichgesinnten Frauen. Alice Salomon bewunderte sie, fürchtete aber auch ihre Schärfe und ihr Temperament.
In der Akademie belegte Gertrud sieben Arbeitsgemeinschaften und eine Vorlesung. Zu ihren Dozenten und Dozentinnen gehörten Carl Mennicke für Soziologie, Dora Bernhard im Fach Sozialhygiene, Dr. Agnes von Harnack für „Religiöse und kirchliche Zeitfragen“, Margarete Berent im Fach Rechtskunde, Hans Muthesius und Elisabeth Nitzsche im Gebiet Jugendwohlfahrtspflege. Gemeinsam besuchten sie Gefängnisse, Berufsschulen und Wohlfahrtseinrichtungen. In Lichtenrade trafen sie auf schulentlassene Fürsorgezöglinge. Der dortigen gnadenlosen Typisierung – „Schwachsinnige“, „Psychopathen“, „Aufstiegstyp“ – konnte meine Mutter nicht zustimmen. Eines Abends verabredeten sich vier Fürsorgerinnen zum Besuch eines Rotlichtcafés. Das löste bei Gertruds Theologenfreund großes Befremden aus. Sie verteidigte sich großartig: auch diese Gruppe gehöre in Zukunft zu ihrer Gemeinde. Dagegen konnte er nichts sagen.
Betriebsbesichtigungen, z. B. bei Osram standen auf dem Programm. 70% der Arbeiterinnen waren handwerklich ausgebildet, aber schlecht bezahlt. Auch darüber diskutierten die jungen Sozialarbeiterinnen. Ihr Empfinden für die sozial Schwachen war geweckt. Immer wieder hören die Schülerinnen die Forderung, dass neben der körperlichen Arbeit mit kleinen Kindern die geistige Beschäftigung nicht zu kurz kommen darf. Auf körperliche Betätigung legte Alice Salomon ebenso großen Wert. So nahmen die jungen Frauen mit Begeisterung an den wöchentlichen Gymnastikstunden teil. Dazu gehört auch eine Vortragsreihe bei Ernst Kretschmer über das Thema “Körperform und Charakter“. Der vielfältigen Sozialen Arbeit mit ihren breiten Angeboten auf fast allen Gebieten fehlt derweil noch immer die staatliche Anerkennung. Die Behörden rügten, es werde zu viel experimentiert. Sie konnten mit den neuen, modernen Ideen nicht umgehen und legten Steine in den Weg.
In Berlin stand Gertrud die Welt offen. Sie war bei allen Exkursionen dabei, wie zum Schloss Sanssouci in Potsdam, zu Museen, Konzerten, Kirchen. Die Berliner Volkshochschulen boten Führungen und Studienfahrten „zum mäßigen Preis“. Ungewöhnlich waren die Abendeinladungen in Salomons Wohnung. Immer wieder hebt Mutter in ihren Briefen die persönliche Atmosphäre der Treffen hervor. Hier wurde frei diskutiert, selbst sexuelle Dinge wurden sachlich angesprochen. Das stärkte das Selbstbewusstsein der jungen Frauen. An einem der Abende hielt Gertrud ein Referat, über Bischof Wilhelm Emmanuel von Kettler, das ihr besonders im Gedächtnis blieb. Sie sprach unbefangen, ohne Blick auf ihr Manuskript und konnte ihre Hörerinnen überzeugen. Heute weiß ich, woher Mutters Diskutierfreudigkeit rührt. Sie fühlte sich frei – und genoss es. Das gefiel ihrem Bräutigam nicht. In seinen häufigen Briefen versuchte er, ihren Freiheitsdrang einzuengen. Aber Gertrud ließ sich nichts gefallen. Sie hatte auch kein Heimweh.
Alice Salomon, getaufte und überzeugte protestantische Christin, die in der Dahlemer Kirche bei Pfarrer Martin Niemöller Kraft schöpfte, kämpfte stets für ein vorurteilsfreies Bild der einfachen Frauen: „Mein ganzes Streben ist, die Menschen ganz ohne Illusion kennenzulernen. Wir müssen versuchen, nicht mit unseren Maßstäben zu messen.“ Meine Mutter bewunderte ihre Liebe und Hinwendung zu den einfachen Menschen. Diese Einstellung betonte Salomon offen ihren Studentinnen gegenüber, sie vertraute ihnen wie ihren Freunden. Das verband die jungen Frauen sehr. Über die Ehe sprach Salomon mit großer Ehrfurcht. Sie sah darin die höchste Erfüllung der beiderseitig ergänzungsbedürftigen Menschen. Eine Tragik geht von den besonderen Frauen aus, die sich auf beachtlicher geistiger Höhe bewegten. Sie kämpften oft gegen große Einsamkeit. Gerade diese Frauen wollten nicht die Gleichstellung mit dem Mann. Sie kämpften um ihre Anerkennung -und vor allem um ihre Freiheit.
Allgemein stand die Meinung unter den Schülerinnen, soviel Freiheit wie im Berliner Seminar würden sie in ihrem ganzen Leben nie mehr erleben. Die Mutter verbrachte die Ferien in Berlin, ein Geschenk für sie! Angeboten wird eine Studienreise nach Wien. Sie fuhr nicht mit, nahm stattdessen an einer Tagung des Lehrerverbandes teil. Die Referate über Kunst, Erziehungsfragen und kirchlichen Fragen kamen ihrem Bildungshunger entgegen. Schweren Herzens nahm sie im Sommer 1929 von der Schule und Alice Salomon Abschied.
Zuhause wurde Gertrud sehnlichst erwartet. 1930 heiratete sie ihren langjährigen Verlobten Erich Kühn. Der trat seine erste Pfarrstelle in Linx bei Kehl an. Sie bezogen ein altes, großes Pfarrhaus ohne Heizung und Komfort mit einem riesigen Garten. In dem ländlichen Umfeld fühlten sie sich wohl. Nacheinander brachte Gertrud die Söhne Gerhard (1931), Otto (1932) und Volkmar (1934) zur Welt.
In der frühen Zeit der Nationalsozialismus musste der engagierte Pfarrer Linx aufgrund seiner Predigten verlassen. Er nahm eine Stelle im sozialistischen Mannheim-Neckarau an. Hitler traute sich nie in diese Stadt. Auch dort erwartete die Familie ein großes Haus, 14 Zimmer und keine Heizung. 1937 wurde die Tochter Gertraud (die Verfasserin dieses Textes) geboren – und am selben Tag eine Heizung eingebaut. Der Frieden dauerte auch hier nicht lang. Abermals wurde der Vater überwacht. Sein Ausweg war der Eintritt in die Wehrmacht.
So musste die Mutter ab 1938 die gesamte Verantwortung für die vier Kinder, den Haushalt, das Pfarramt und die Gemeinde übernehmen. Im Pfarrhaus wohnten inzwischen der Vikar und seine Frau, die Gemeindehelferin, das Hausmädchen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter von morgens bis abends an der Tür stand, Kranke besuchte, verwaiste Frauenkreise übernahm, sogar Bibelstunden hielt. Die regelmäßigen Briefe des Vaters aus dem Feld gaben genaue Anweisungen, die erfüllt werden mussten. Mit großer Disziplin führte sie alles aus. Ich kann mich an keine Klagen erinnern. Auch für den Vater begann eine schwere Zeit, zuerst in Frankreich, dann Ostpreußen und schließlich als Divisionspfarrer in Russland, wo er im Alter von 38 Jahren schon 5.000 Soldaten beerdigte. Für meine Mutter war unklar, ob ihr Ehemann je wiederkommen würde.
Die ersten Städte, die die Alliierten in Deutschland bombardierten, waren Ludwigshafen und Mannheim. Nacht für Nacht erschienen am Himmel sogenannte Lichtbäume, die den Bombenflugzeugen den Weg zum Ziel zeigten. Wir Kinder lagen in unseren Trainingsanzügen auf den Apfelhorten im tiefen Keller. Neben uns saß die Mutter und verfolgte die Nachrichten aus dem Volksempfänger. Auf den Knien lag ein Schachbrett, auf dem Mannheim in Zonen eingeteilt war. Kam die Meldung „Paula-Dora-7“ waren wir dran – höchste Alarmstufe! Nacht für Nacht fielen die Bomben. Sirenen verkündeten das Ende der Schlacht. Dann eilten alle hinaus und reihten sich in die Löschkette mit Eimern ein. Die mutigen Brüder rannten in brennende Häuser und versuchten noch Möbel zu retten.
Ich sehe meine unerschrockene Mutter, wie sie die Phosphortropfen einer verirrten Brandbombe, die aufs Haus fiel, zusammenkehrte und zum Fenster in den Garten hinauswarf. Es wurde immer gefährlicher. Wieder fielen die Bomben. 1943 standen wir in unserer Waschküche, Hand in Hand, und starrten auf das Höllenspiel vor unseren Augen. Unsere Kirche, nur wenige Meter vor unserem Haus, war getroffen worden. Die große Hitze ließ die Glocken läuten, die Orgel brannte heulend ab, der Kirchturm drohte auf das Pfarrhaus zu stürzen und fiel im letzten Moment auf das gegenüberliegende leere Gemeindehaus. Wir waren gelähmt.
Wir konnten nicht mehr bleiben. Die Heidelberger Großmutter holte uns in ihre schöne Wohnung. Über Heidelberg wurden Flugblätter abgeworfen mit der Aufschrift: „Heidelberg wollen wir schonen, denn da wollen wir wohnen!“ Keine Bombe fiel. Wir fühlten uns sicher. Über unserer Wohnung wohnte ein Ehepaar, eine Christin und ein Jude, das mit unserer Mutter freundschaftlich verkehrte. Die Ehefrau verstarb unerwartet. Eines Tages bat der Mann meine Mutter in seine Wohnung, gab ihr den Schlüssel und bat sie nach dem Rechten zu sehen. Die Verwandtschaft seiner Frau hatte ihn angezeigt. Er sollte am folgenden Tag nach Theresienstadt deportiert werden. Meine Mutter regelte alles. Er hat überlebt.
Am 26. Juni 1945 nahm meine Mutter an der Beerdigung eines alten Freundes auf dem naheliegenden Bergfriedhof teil. Ihr Sohn Volkmar und ein Freund wollten sie dort abholen. Eine kleine Eisenbahnbrücke führte zum Friedhof. Dort blieben sie stehen und sprachen mit einem amerikanischen Soldaten, der mehrere zurückgebliebene Munitionskisten der Nazis bewachen sollte, die zur Sprengung dienten. In der heißen Mittagssonne schlug der Soldat offensichtlich mit dem Gewehrkolben auf die Kisten, die explodierten. Die Mutter sah bei ihrer Rückkehr nur noch die Fetzen ihres Kindes in den Bäumen. Sie versteinerte.
Der vermisste Vater war gesucht und in einem englischen Gefangenenlager gefunden worden. Aufgrund des Unglücks wurde er entlassen. Wir zogen zurück nach Mannheim. Diesmal war das Pfarrhaus mit Flüchtlingen aus dem Osten gefüllt. Der Vater suchte die schrecklichen Bilder des Krieges mit Aktivität zu verdrängen. Er begann zu bauen und veränderte einen ganzen Stadtteil. Zuerst entstanden Flüchtlingsheime, dann ein Altersheim, eine Wärmestube, ein Säuglingsheim, ein Kinder- und Mütterheim, Kindergärten, Werkstätten für Behinderte. Höhepunkt bleibt bis heute die Gründung des evangelischen Johann-Sebastian-Bach-Gymnasiums, heute das größte private Gymnasium in Deutschland. Mein Vater wurde in Mannheim der „Immobilienmattheus“ genannt und schuf viele Arbeitsplätze.
Dieses Tempo musste die Mutter mithalten. Sie wehrte sich nicht. Mein Vater suchte stets ihren klugen, ausgewogenen Rat. Nach jeder Predigt stürmte er mit dem Ruf ins Haus: „Gertrud, wie fandst du die Predigt?“ Sie hielt sich mit Kritik nicht zurück. Vier Wochen vor der Währungsreform 1948 brachte sie ihr fünftes Kind Dorothea zur Welt. Da war sie bereits angeschlagen. Doch sie beklagte sich nicht, hielt dem Vater den Rücken frei und unterstütze ihn gegen alle Widerstände. Sie war die ideale Pfarrfrau, die ihre eigenen Interessen zurückstellte. Allein ihren Italienischunterricht ließ sie sich nicht nehmen.
Mutters Kräfte schwanden. Auch der letzte Urlaub bei uns und den geliebten Enkeln half nicht mehr. Sie starb am 13. August 1971 mit 66 Jahren. Sie hat sich für uns und die Gemeinde geopfert. Wir sind ihr dankbar für alles, was sie für uns getan hat.
Anmerkung des Archiv-Teams
Der Nachlass von Gertrud Bernhard, geb. Kühn befindet sich im Alice Salomon Archiv der Alice Salomon Hochschule Berlin. Er beinhaltet mehrere hundert Briefwechsel von Gertrud Kühn geb. Bernhard mit ihrem späteren Ehemann Erich Kühn, mehrere dutzend Korrespondenzen mit Familienmitgliedern, Freund*innen und anderen Bekannten sowie persönliche Dokumente, etwa Zeugnisse und Urkunden, Hefte, Fotoalben/Fotos, Zeichnungen etc. Der Bestand kann nach terminlicher Vereinbarung im ASA eingesehen werden.