Ein Geschichtslabor zum (post-)kolonialen Erbe Sozialer Arbeit als Modell historiographischer Lehrforschung (2023-2026)
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Das Forschungsprojekt „Soziale Arbeit als koloniales Wissensarchiv?“ untersucht die Verflechtungen der Sozialen Arbeit mit der deutschen Kolonialherrschaft und deren Auswirkungen zwischen den 1880er- und 1930er-Jahren. Ziel ist es, die Entstehung der Profession im kolonialen Kontext zu analysieren und ihre bis heute wirksamen Strukturen sichtbar zu machen. Gleichzeitig soll die Rolle widerständiger Schwarzer Menschen, PoC und (post-)kolonialer Migrant*innen als Akteur*innen innerhalb der Sozialen Arbeit erforscht werden. „Hidden figures“ und Organisationen sichtbar zu machen, ist essenziell, um dominante, weiß imaginierte Narrative der Sozialen Arbeit zu durchbrechen, in denen diese Personen meist nur als „hilfsbedürftig“ oder „passiv“ gezeichnet werden.
Historische Verbindungen von Sozialer Arbeit, Pädagogik und Kolonialismus
Die moderne Soziale Arbeit entstand parallel zur deutschen Kolonialherrschaft. 1893, als Deutschland zur drittgrößten Kolonialmacht wurde, gründeten Frauen der Berliner Frauenbewegung die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, aus denen zentrale Organisationen und Methoden der Profession hervorgingen. Viele dieser weißen deutschen Sozialarbeiterinnen waren zugleich in der kolonialen Bewegung aktiv und verknüpften soziale Reformen mit kolonialen Interessen.
Die 1908 gegründete „Soziale Frauenschule“ von Alice Salomon und das Pestalozzi-Fröbel-Haus, beide bis heute bestehend, zeigen diese Verflechtung deutlich. Ebenso zielte die erste koloniale Frauenschule in Bad Weilbach, die weiße Mittelschichtsfrauen für den Einsatz in den Kolonien ausbildete – mit Unterricht in Hauswirtschaft, Pädagogik und „Völkerkunde“ -, darauf ab, die Herrschaft der Deutschen in den Kolonien zu stabilisieren. Diese Schulen propagierten das Bild der weißen deutschen Frau als „Mutter der Nation“, die durch „Kulturarbeit“ sowohl die koloniale als auch die soziale Ordnung sichern sollte. Dies geschah nicht nur in den Kolonien, sondern auch in deutschen Großstädten, wo Sozialarbeit häufig prekarisierte weiße Bevölkerungsgruppen mit kolonialen Attributen belegte.
Die internationale Zusammenarbeit weißer Frauen in der Sozialen Arbeit hinterfragte koloniale Machtverhältnisse kaum. So konstituierte sich Soziale Arbeit global als weißer Raum, in dem eurozentrische Vorstellungen von sozialer Ordnung und Bildung handlungsleitend waren. Im Forschungsprojekt verfolgen wir daher Ansätze der kritischen Weißseinsforschung und versuchen, widerständige Perspektiven von BIPoC innerhalb der Sozialen Arbeit und Pädagogik zu rekonstruieren. Aufgrund kolonialer und rassistischer Erinnerungspolitiken ist diese Forschung auf Arbeiten und historische Studien von BIPoC-Communities angewiesen, die oft als einzige zur Präsenz und zum Wirken von Menschen aus ehemals kolonisierten Ländern in Deutschland forschen (vgl. zum Beispiel das als “Gründungsdokument” der afrodeutschen Bewegung gesehene Werk “Farbe bekennen”, das 1986 von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz herausgegeben wurde).
Lehrforschungsprojekte und rassismuskritische Reflexion
Das Projekt basiert auf Lehrforschungsprojekten in sozialarbeiterischen und pädagogischen Ausbildungsgängen, in denen Studierende und Schüler*innen an fünf verschiedenen Standorten eigene Archivstudien durchführen. Sie untersuchen koloniale Kontinuitäten innerhalb ihrer Professionen. Rassismuskritische Workshops bieten dabei Reflexionsräume, um fortwirkende koloniale Gewaltverhältnisse zu analysieren und im Kontext der eigenen Positioniertheit einzuordnen. Diese Gewalt zeigt sich nicht nur in den historischen Dokumenten, sondern auch in den Lernsettings selbst, die oft weiße Perspektiven zentrieren.
Ein zentraler methodischer Ansatz ist die diskursanalytische Untersuchung von Archivmaterialien, die koloniale Wissensbestände enthalten. Gemeinsam mit den teilnehmenden Schüler*innen und Studierenden werden postkoloniale und widerständige Narrative analysiert, um Reflexionsprozesse für eine rassismus- und kolonialismuskritische Ausbildung anzustoßen. Die Ergebnisse des Projekts, darunter methodische Konzepte und ausgewählte Archivdokumente, werden für die Lehre aufbereitet und öffentlich zugänglich gemacht.
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Gesucht: Spuren marginalisierter Akteur*innen in der Sozialen Arbeit (ca. 1870–1930)
Wir suchen Hinweise zu Schwarzen Menschen, afrodiasporischen, asiatisch-diasporischen Menschen, sowie Migrant*innen aus ehemaligen (deutschen) Kolonien in Afrika und (Süd-, Ost-, Südost-)Asien, die ungefähr zwischen 1870 und 1930 in Deutschland lebten und beruflich oder informell im Bereich der Sozialen Arbeit aktiv waren.
Dazu zählen Tätigkeiten wie z.B.:
- Engagement in der Armenpflege, Wohlfahrtspflege oder Jugendfürsorge
- Mitarbeit oder Engagement in sozialen Bewegungen (z.B. Frauenbewegung), Vereinen oder kirchlichen Organisationen
- Berufliche Arbeit als Sozialarbeiter*innen, Fürsorger*innen oder in verwandten Feldern (z.B. in Kinderheimen, Kindergärten oder Schulen)
- Aktivitäten in Selbstorganisationen (z.B. Afrikanischer Hilfsverein), Gemeinschaftsräumen für BIPoC (z.B. Cafés oder Treffpunkte) oder anderen Netzwerken Schwarzer Menschen und Migrant*innen
Wenn Sie Informationen, Dokumente, Fotos oder Geschichten haben, melden Sie sich bitte bei uns unter kol-lab@ash-berlin.eu
Vielen Dank für Ihre Unterstützung.
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KOL-LAB-Forschungsteam am Alice Salomon Archiv der ASH Berlin:
- Fallon Tiffany Cabral, Dipl. Pol.
- Rutlina Goncalves Schenck, B.A.
- Maex Kühnert
- Dr. Dayana Lau
ehemalig:
- Hannah Ferreira, M.A. (2023-2024)
- Francis Ramirez Cervantes, B.A. (2023-2024)
Im Projekt arbeiten Institutionen der pädagogischen, sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Ausbildung auf allen Ausbildungsniveaus zusammen. Neben dem Forschungsteam der ASH Berlin, das in den BA- und MA- Studiengängen für Soziale Arbeit verankert ist, sind folgende Kooperationspartner*innen am Projekt beteiligt:
Hochschule RheinMain: BA-Studiengang Soziale Arbeit
- Prof. Dr. Wiebke Dierkes und Daniela Khanh Duyen Tran
Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin: sozialpädagogische Bildungsgänge
- Silke Bauer (kulturelle Bildung) und Sabine Sander (Archiv)
Universität Hildesheim MA-Studiengang Lehramt
- Dr. Z. Ece Kaya und Prof. Dr. Viola B. Georgi
Universität Marburg: BA-Studiengang Sozialpädagogik und interdisziplinäre Studienprojekte
- Prof. i.R. Dr. Susanne Maurer
Wissenschaftliche Beratung:
- Dr. Denise Bergold-Caldwell (2023 bis heute)
- Naemi Eifler, M.A. (2023)
- Wissenschaftliche Beratung & Prozessgestaltung: Serpil Polat (2024 bis heute)
Rassismuskritische Erhebung und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen an den Lehrforschungsstandorten:
- Sheila Ragunathan, M.A. (2023 bis heute)
Mittelgeber*in: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Das Projekt ist Teil des Wissensnetzwerks Rassismusforschung (WinRa)
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The Research Project „Social Work as a Colonial Knowledge Archive?“
The research project „Social Work as a Colonial Knowledge Archive?“ examines the entanglements of social work with German colonial rule and its effects between the 1880s and 1930s. The goal is to analyze the profession’s emergence in a colonial context and make its ongoing structural impacts visible. At the same time, the project seeks to explore the role of resistant Black people, People of Color, and (post-)colonial migrants as key actors in social work. Making hidden figures and organizations visible is essential to disrupting dominant, white-imagined narratives in which these individuals are typically portrayed as merely needy or passive.
Historical Connections Between Social Work, Pedagogy, and Colonialism
Modern social work developed alongside German colonial rule. In 1893, when Germany became the third-largest colonial power, women from the Berlin women’s movement founded the Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit (Girls’ and Women’s Groups for Social Assistance), laying the foundation for key social work organizations and methods that remain influential today. Many of these white German social workers were also active in the colonial movement, linking social reform efforts to colonial interests.
Alice Salomon’s Soziale Frauenschule (Social Women’s School), founded in 1908, and the Pestalozzi-Fröbel-Haus, both of which still exist today, exemplify these entanglements. Similarly, Germany’s first colonial women’s school in Bad Weilbach trained white middle-class women for roles in the colonies, teaching domestic skills, pedagogy, nursing, and ethnology to reinforce colonial rule. These institutions promoted the idea of the white German woman as the mother of the nation, ensuring both colonial and social order through so-called cultural work. This ideology was not only applied in the colonies but also shaped urban social work in Germany, where marginalized white populations were often racialized and portrayed as foreign and uncivilized.
International collaborations among white women in social work rarely questioned colonial power structures. As a result, social work became a predominantly white space, shaped by Eurocentric ideas of social order, education, labor, and family. Our research project, therefore, adopts a critical whiteness approach and seeks to reconstruct the resistant perspectives of BIPoC in the history of social work and pedagogy. Due to colonial and racist memory politics, this research relies on the work of BIPoC communities, who are often the only ones documenting and researching the historical presence and contributions of people from formerly colonized regions in Germany. One key reference in this context is the foundational work of the Afro-German movement, Farbe bekennen (1986), edited by Katharina Oguntoye, May Ayim, and Dagmar Schultz (see also Showing Our Colors, 1992 engl. translation by Anne V. Adams together with Tina Campt, May Opitz and Dagmar Schultz).
Teaching-Based Research and Critical Reflection on Racism
The project is centered on teaching-based research in social work and pedagogy programs, where students and trainees from five different institutions conduct archival studies to examine colonial continuities within their professions. Anti-racism workshops provide reflection spaces for analyzing ongoing colonial power structures and positioning oneself within them. These violent legacies are not only present in historical documents but also in contemporary learning environments, which continue to center white perspectives.
A key methodological approach of the project is the discourse analysis of archival materials containing colonial knowledge structures. Together with students and trainees, we analyze both (post)colonial and resistant narratives to foster critical reflection processes within anti-racist and anti-colonial education. The project’s findings – including methodological concepts and selected archival documents – are prepared for educational use and made publicly accessible.
Call for Information: Traces of Marginalized Actors in Social Work (ca. 1870–1930)
We are looking for traces of Black, Afro-diasporic and Asian-diasporic individuals , as well as migrants from former (German) colonies in Africa and (South-, East-, Southeast-)Asia who lived in Germany between approximately 1870 and 1930 and were professionally or informally active in the field of social work.
This includes activities such as:
• Engagement in poor relief, welfare work, or youth care
• Participation or involvement in social movements (e.g., women’s movements), associations, or church organizations
• Professional work as social workers, caregivers, or in related fields (e.g., children’s homes, kindergartens, or schools)
• Activities in self-organized initiatives (e.g., the Afrikanischer Hilfsverein), community spaces for BIPoC (e.g., cafés or meeting places), or other networks of Black people and migrants
If you have any information, documents, photographs, or stories, please contact us at kol-lab@ash-berlin.eu.
Thank you for your support!
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KOL-LAB Research Team at the Alice Salomon Archive, ASH Berlin:
- Fallon Tiffany Cabral, Dipl. Pol.
- Rutlina Goncalves Schenck, B.A.
- Maex Kühnert
- Dr. Dayana Lau
Former members:
- Hannah Ferreira, M.A. (2023–2024)
- Francis Ramirez Cervantes, B.A. (2023–2024)
Project Partners:
- Hochschule RheinMain: BA Social Work Program
- Prof. Dr. Wiebke Dierkes & Daniela Khanh Duyen Tran
- Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin: Social Pedagogy Education Programs
- Silke Bauer (Cultural Education) & Sabine Sander (Archive)
- University of Hildesheim: MA Teaching Program
- Dr. Z. Ece Kaya & Prof. Dr. Viola B. Georgi
- University of Marburg: BA Social Pedagogy and Interdisciplinary Study Projects
- Prof. i.R. Dr. Susanne Maurer
Scientific Advisory Board:
- Dr. Denise Bergold-Caldwell (2023–present) & Naemi Eifler, M.A. (2023)
- Scientific Advisory & Process Design: Serpil Polat (2024–present)
Critical Examination of Racism in Teaching and Learning Processes at Research Sites:
- Sheila Ragunathan, M.A. (2023–present)
Funding Institution:
- Federal Ministry of Education and Research (BMBF)
The project is part of the Knowledge Network on Racism Research (WinRa)